“Mach es doch einfach anders als vorher!”
Schon wieder flatterte mir die Tage etwas Gedankenanregendes ins Haus:
„Hundert gute Tipps, sich aus toxischen Beziehungen zu lösen.“
…stand da.
Ich bin zwar in keiner, aber viele Menschen, die ich kenne, könnten gesündere Beziehungen leben, also…
…hab ich es aufmerksam durchgelesen und fand ganz viele Ratschläge (die ja bekanntlich auch Schläge sind).
- Setze der anderen Person klare Grenzen.
- Sage nein.
- Nimm dich wichtiger.
- Erkenne deinen Wert.
Und viele mehr dieser Art.
Ja klar!
Da hat jemand ein Leben lang erfahren, dass er oder sie keine Grenzen hat oder haben darf, weil immer drüber gelatscht wurde, und jetzt „setz doch einfach mal Grenzen“.
Oder da haben Menschen gelernt, dass ihr Nein nicht galt oder gar bestraft wurde, und dann bekommen sie den Tipp, einfach mal Nein zu sagen. Das Wort, das früher zu Bestrafung geführt hat.
Klar, ist total einfach.. macht man doch einfach mal so…
Nee, macht man eben nicht. Machen wir alle nicht einfach mal so!
Unbekanntes Terrain betreten kostet Mut – aber sowas von!
- Sich zeigen, wenn man immer eher unsichtbar war..
- Nein sagen, wenn ein Nein Strafe, Streit, Missachtung bedeutet hat…
- An sich selbst denken, wenn man die Familie (Eltern) retten musste, indem man deren Wünsche erfüllte…
- Sich emotional ausklinken, wenn man gelernt hat, alle Antennen aufzurichten und auszurichten, um bloß nie ausgeklinkt zu sein, weil das gefährlich sein könnte…
- Sich auffällig und schön anziehen, wenn man gelernt hat, eigentlich keinen Platz im Leben zu haben und nicht sichtbar zu sein…
- Einfach mal den Kopf ausschalten, und stattdessen Bauchgefühl, Intuition oder Emotion entscheiden lassen, wenn doch der Kopf so klug abgespeichert hat, wie überleben geht…
Das zu tun bedeutet, über die eigenen Überlebensmechanismen zu gehen und wirklich wirklich unbekanntes Terrain zu betreten, das sich überhaupt nicht sicher anfühlt.
Das altbekannte Terrain mag unangenehm sein (ungesunde Beziehung, unglücklich im Job etc.), aber es ist immerhin bekannt – auf dieser Bühne kann man sich bewegen.
Wenn es so einfach wäre, wie so viele Ratgeber es verkaufen, bräuchte es eben diese Ratgeber gar nicht – wir wären alle von unseren Traumata blitz-genesen durch
„ich hab es einfach anders gemacht als früher“.
Also.. wie kommt man nun auf dieses andere unbekannte Terrain, von dem man annimmt, es sei besser, was aber gruselig viele Ängste und Unsicherheiten auslöst?
Eben nicht mit „einfach mal anders machen“!… und auch nicht schnell!… sondern langsam, im eigenen Tempo!
Würdest du jemandem ein Korsett wegnehmen, wenn er keine Muskulatur aufgebaut hat, um sich ohne Korsett zu halten?
Vermutlich nicht.
Wir brauchen Alternativen in dem neuen Terrain, auf die wir aufbauen können, damit der Boden sicher wird.
Erlaube dir, dass deine alten Muster immer wieder durchbrechen.. verurteile dich nicht dafür.. und baue ganz gemächlich den Boden für neues Terrain, damit das weniger Angst macht.
Wie?
Die eine Freundin, bei der Nein sagen total erwünscht ist:
Sag immer wieder Nein zu ihr (erstmal nicht zu allen anderen oder da, wo es besonders schwierig ist). Mach in sicherem Rahmen gute Erfahrungen mit dem Wort Nein.
Der eine Mensch, der deine Grenzen sehr achtet und dir mit Respekt begegnet:
Trau dich, ihm deine Grenzen zu zeigen und mache gute Erfahrungen damit, dass er sie einhält.
Die eine Person, die dir immer wieder sagt, dass du schön bist:
Geh mit ihr in ein Kleidergeschäft und trau dich, dich ein ganz klein bisschen mit ihren Augen zu sehen, während du etwas anziehst, was du schön findest, aber was du dich bisher nicht getraut hast zu tragen.
Usw.
Nimm dir nicht dein ganzes Überlebenskorsett auf einmal weg, sondern bau erstmal Muskeln auf – ganz langsam und liebevoll, bis das unbekannte Terrain nicht mehr so unbekannt ist und du Halt findest.
Dann geht es auch besser, sich vom alten Terrain zu lösen 🙂